Brahms gewidmet | Projektbericht
Hermann Goetz: Klavierquartett e-Moll op. 6
Entstehung und Kompositionsgeschichte
22. Oktober 1867: Hermann Goetz an Emilie (ZZ 143,5): Zur Entstehung von op. 6:
»[…] und jetzt seit ein paar Tagen […] stecke ich wieder in einem neuen Werk das – wie ich denke – recht gut werden soll, ein Quartett für Klavier, Violine, Viola und Cello. Eben dieses Quartett ist schuld, daß dieser Brief ein paar Tage liegenblieb.«
30. Oktober 1867: der erste Satz ist beendet (Datierung der Partitur »30. Octbr. 67.«)
20. Dezember 1867: der zweite Satz ist beendet (Datierung der Partitur »20. Decbr. 67.«), der 3. Satz ist nicht datiert
14. Januar 1868: Datierung des 4. Satzes in der als Stichvorlage genutzten (Kompositions-?) Partitur, also Vollendigung des Quartetts (»Winterthur d. 14 ? [sic] Jan. 1868. H. G.«)
12. Oktober 1869: Verhandlungen mit Breitkopf und Härtel zur Drucklegung, vgl. Brief von Goetz an seine Frau Laura vom 16. Oktober 1869 (ZZ 142a; Bobeth 1996, S. 181):
»[…] Am Freitag vormittag ging ich dann noch einmal hin mit den Manuskripten. Ich hatte ihnen absichtlich Zeit gelassen, um sich in ihren Büchern über mich zu instruieren. Den alten Härtel fand ich da nicht zu Hause, sollte ihn aber am Abend um fünf Uhr treffen. Zum Glück traf ich ihn dann in der Stimmung, sich etwas vorspielen zu lassen. Das Quartett natürlich ließ sich nicht so schnell zusammenbringen, doch spielte ich ihm aus jedem Satz wenigstens ein Stückchen auf dem Klavier. Als ich das, aber nur sehr kurz, getan hatte, fing er mit einmal an, mir eine Anekdote von Liszt zu erzählen. So seltsam das an sich war, war es doch ein Zeichen, daß ich ihn in gute Laune gebracht hatte. Ich lachte pflichtschuldigst sehr und spielte dann noch drei von meinen Klavierstücken: Frisch in die Welt hinaus, Heimatklang und Liebesscherze. Seine gute Laune stieg zusehends und nachher kamen wir dann in lange Auseinandersetzungen über das Risiko der Verleger, die Schwierigkeiten der Komponisten, heutzutage durchzudringen, und dergleichen erbauliche Dinge mehr, bis er schließlich mit der Alternative herausrückte: Entweder bloß die Klavierstücke und ein anständiges Honorar, oder das Quartett und die Klavierstücke, aber nix dazu. Mein liebes Wybli wird wissen, daß ich nicht einen Augenblick geschwankt habe. Das Großeli wird es für ein schlechtes Geschäft erklären, aber wir beide wissen es besser. Ich konnte auch nichts verlangen […]«
Roner 1906, S. 99f. dazu:
»Er war freilich nicht verwöhnt; hatte er doch, um sein E dur-Klavierquartett nicht im Schreibtisch verschimmeln zu lassen, auf das Honorar für die ›Losen Blätter‹ verzichtet, und beide Werke ohne Entschädigung weggegeben. Er hoffte zuversichtlich auf die Zeit, da es rauschen und klingen werde, wenn er auch inzwischen ›die große Straße gegangen sei‹.«
November 1869: Breitkopf & Härtel hat das Quartett zum Druck angenommen. Nach einem Besuch dort im Oktober schreibt Goetz im November an Widmann (ZZ 141b):
»Sie haben mir wieder zwei umfängliche Werke abgenommen, auf die ich einigen Wert lege. Zunächst mein Klavierquartett […] und dann das Heft Klavierstücke, wegen dessen ich doch nun einen Titel zugelegt habe. Ich habe es schließlich ›Lose Blätter‹ getauft, es sind neun Stücke, jedes mit Überschrift.«
[November 1869]: Goetz an Widmann (ZZ 141b): Bericht von der Uraufführung
»Ich glaube nicht, daß Du es kennst, es wurde einmal in Zürich in einer Quartettsoirée gemacht.«
diese Aufführung hat jedoch scheinbar keinen größeren Eindruck hinterlassen, die Zeitschriften sehen die Zürcher Aufführung vom 31. Januar 1871 mehr oder weniger deutlich als Erstaufführung an
vor dem 6. Juni 1870: Erstdruck
AP diente als Stichvorlage für EP, AS für ES: vgl. typische Übernahmen von Dynamik- und Ausdrucksbezeichnungen aus der jeweiligen Quelle in den Druck
6. Juni 1870: Goetz an Brahms: Mitteilung der Widmung (Bobéth 1996, S. 215)
»Verehrter Herr Brahms, ich habe mir erlaubt, über beifolgendes Quartett Ihren Namen zu setzen. Es war nicht mehr als billig, weil Ihre Klavierquartette A-dur und g-moll zuerst in mir den Gedanken anregten, diese Form zu bearbeiten. Überhaupt kann ich die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne Ihnen zu sagen, wie wohltätig und erhebend schon seit manchem Jahre Ihr künstlerisches Schaffen auf mich gewirkt hat. Die Zeit und das Kunstleben, in dem wir uns gegenwärtig befinden, hat für diejenigen, die es ernst und heilig meinen mit ihrer Kunst, wenig Erbauliches und Anmutendes. Es ist die Zeit des Virtuosentums und der Parteiungen. Sie wissen ja, wie klein die Zahl derjenigen ist, die, auf der vollen Höhe virtuosen Könnens stehend, ihre ganze Kraft nur der Verbreitung echter und wahrer Kunst geweiht haben. Was bei der großen Zahl der übrigen mit unterlaufen muss, von deren ›kolossalen Erfolgen‹ die musikalischen Zeitungen angefüllt sind – über diese Misère brauche ich wohl keine Worte zu verlieren... Unter solchen Wirrsalen und Verirrungen ist es erquickend, wenigstens einen Künstler zu sehen, der ohne Rücksicht auf den augenblicklichen Beifall der Menge unbeirrt den Weg geht, den ihm seine eigentümlichen Anlagen und die reinste Kunstbegeisterung vorzeichnen... Ich hoffe, Sie schieben mir keine hohle Schmeichelei unter. Im Gegenteil, wenn ich mir irgend etwas zutraue, so ist es ein gesundes kritisches Bewusstsein, und ich bekenne Ihnen, daß demselben auch bei Ihren Werken im Einzelnen wohl einmal einige Bedenken aufgestiegen sind. So rührte jene Rezension in der A.M.Z. über die Zürcher Aufführung des Goetheschen Fragmentes von mir her. Doch das sind Nebendinge. Was Ihr gesamtes Kunstschaffen und Ihre künstlerischen Erfolge betrifft, so können Sie überzeugt sein, daß wenige eine herzlichere Freude daran haben können als ich. [...] Was noch das beiliegende Quartett betrifft, so will ich mir jede anticipatio benevolentia ersparen. Ich bitte Sie nicht um Nachsicht, eine christliche Tugend, die in der Kunst nicht gelten darf. Im Gegenteil werden Sie vielleicht finden, daß ich das kritische Bewusstsein noch eingehender hätte benutzen können. Nun, wir wollen sehen.«
[nach dem 6. Juni und vor dem 20. Juni 1870]: Brahms an Goetz: Dank für die Widmung (Bobéth 1996, S. 216)
Auszug:
»Geehrter Herr. Ich bin Ihnen ganz von Herzen verbunden für die besondere Freude, die Sie mir durch die Mitteilung und Widmung Ihres Quartetts gemacht haben. Es war mir schon vorher durch eine hiesige Musikhandlung zugeschickt, und es gehörte meine ganz absonderliche Schreibfaulheit dazu, daß mein Dank nicht früher als Ihr Brief kam. Ich kann mich nicht recht entsinnen, was ich früher von Ihren Kompositionen gesehen habe, doch kam mir dieses Quartett sehr unerwartet, und ich will gestehen, daß es mich so sehr überrascht als erfreut hat. Ich würde eingehender schreiben und behaglich einzelnes loben, doch hoffe ich sehr, diesen Sommer in die Schweiz zu kommen, und es plaudert sich doch besser über Musik... Sie denke ich in glücklicher Häuslichkeit zu finden, was denn freilich für den Künstler ein besondres, leider nicht leicht zu erringendes Glück ist. So nehmen Sie denn nochmals meinen herzlichsten Dank und lassen Sie mich den Sommer recht viel Neues und Schönes sehen. [rechts:] Ihr ergebener Johs. Brahms.«
[20. Juni 1870]: Brahms an Carl Jacob Melchior Rieter-Biedermann: Ausdruck der Freude über die Widmung (BW XIV, S. 189):
Auszug:
»Goetz’ Quartett hat mir viel Freude gemacht. Ich hätte das Stück nicht erwartet. Hat er denn schon geheiratet und – hat er noch seine Schwindsucht? Oder fantasiert mein schlechtes Gedächtnis?«
3. November 1870: Hans von Bülow an Goetz (ZZ 143,5):
»Das Quartett hoffe ich, mir einmal hier mit Begleitung vorspielen zu können.«
1873: ein neuer Abzug erscheint: Leipzig, Breitkopf & Härtel, V.-Nr. 12138 [1871, Abzug ca. 1873], fol. [Quelle: Katalog 60 Musik Drüner]
18. Oktober 1873: Goetz an Ernst Frank (ZZ 141): Goetz berichtet vom Erfolg seines Quartetts:
»Wenn Sie einmal Zeit finden, sehen Sie sich einmal das Trio op. 1 und das Quartett op. 6 ein wenig an… Ich habe beim Publikum stets Glück gehabt damit, auch an Orten, wo man mich gar nicht kannte.«
21. Dezember 1874: Ernst Frank an Goetz (ZZ 142a):
»[...] das Quartett werden wir natürlich üben, soviel es geht, ich habe schon mit großem Genuß daran studiert.«
ab 1875: erkennbar neuer Schwung in der Rezeption des Quartetts, da Goetz durch den Erfolg der Oper Der Widerspenstigen Zähmung (UA 11. Oktober 1874, Mannheim) größere Bekanntheit erlangt hat.
Dazu Franz von Holstein an Goetz, 28. Januar 1876 (ZZ 142):
»Auch Ihr Klavierquartett hat Frank mir die Freude gemacht, mich hören zu lassen. Ich sprach hier gleich davon – Härtels haben es in Ihrem Katalog gewissermaßen neu entdeckt, weil die »Widerspenstige« Ihren Namen bekannt gemacht hat. Hoffentlich wird es hier auch bald einmal wieder zu Gehör gebracht. Ich werde das Meinige dazu tun.«
wohl 1875: Titelauflage (B&H): zwischen 1875 und 1883, Plattennummer 12138
1. Februar 1876: Goetz an Holstein (ZZ 141b):
»Daß Ihnen mein Klavierquartett gefallen hat, freut mich recht aufrichtig; besten Dank für Ihre freundlichen Absichten damit in Leipzig.«
SmW 36 (1878), S. 118: Das Quartett wird erstmals in der Heimatstadt des Komponisten aufgeführt:
»Königsberg, 31. Dec. In ihrer zweiten Soirée am 11. Dec. trugen die Herren Hünerfürst, Hennig und Genossen das selten gehörte, sehr hübsche Trio concertant in Emoll (Op. 119) von Spohr, darauf als Novität das höchst gediegene Clavier-Quartett unseres früh verstorbenen Landsmanns H. Götz in Edur (Op. 6) mit sehr günstigem Erfolge vor, indem nach jedem Satze lebhaft applaudirt wurde. Den Schluß der Soirée bildete das Streichquartett in Cmoll (Op. 18) von Beethoven.«
ca. 1896: Nachdruck innerhalb der Kammermusik-Bibliothek: Hermann Goetz: Quartett E dur, Op. 6 (= Breitkopf & Härtels Kammermusik-Bibliothek 617) ca. 1896 (KM 967-969)
1912: Neuausgabe bei Peters, vgl. Rezension in Die Musik 11/9 (Februar 1912), S. 168f.:
»99. Hermann Goetz: Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello. op. 6. Hrsg. von Hans Sitt. Verlag: C. F. Peters, Leipzig. (Mk. 3.–.) Dieses in seinen ungemein schwungvollen, von romantischem Geist durchglühten Ecksätzen auch heute noch durchweg interessierende Klavierquartett, dessen feinsinniger Variationensatz und feuriges Scherzo jedermann lieb sein müssen, dürfte in dieser billigen und doch vortrefflich ausgestatteten Ausgabe sich die musikalischen Häuser bald erobern.«
1912: Nachdruck innerhalb der Volksausgabenreihe B&H: 1912 (VA 3703)
1926: wohl Neuauflage der Peters-Ausgabe: Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello op. 6, hg. v. Hans Sitt, Leipzig: Edition Peters [1926]
ZEITGENÖSSISCHE EINSCHÄTZUNGEN:
Hans von Bülow (zit. n. Steiner 1907, S. 20):
»Bülow, dem der Komponist die Klavierstücke und sein Klavierquartett eingeschickt hatte, sprach sich darüber wie folgt aus: ›Das Quartett hoffe ich mir einmal hier mit Begleitung vorspielen zu können. Ihre Solo-Klavierstücke gefallen mir ausnehmend. Ihre künstlerische Persönlichkeit bildet sich, wie das nach Ihrer E-moll-Symphonie nicht anders zu erwarten war, immer individueller heraus, und es ist sehr erfreulich, wenn Sie in Ihrer speziellen Richtung (das Wort ist albern, ich weiss es) sich z. B. von der bei aller Geistreichigkeit doch immer etwas trockenen Eckigkeit eines Brahms ebenso fern halten, als bei Ihrer entschieden zu billigenden Neigung für Wohlklang von den aus diesem Streben leicht resultierenden Fadheiten (Ex: Jensen). Möchten Sie sich körperlich ebenso wohl befinden, als dies geistig der Fall ist.‹«