Johannes Brahms
Eine Kurzbiografie
Johannes Brahms war einer der einflussreichsten Komponisten des 19. Jahrhunderts. Sieht man von der Oper ab, hat der in Hamburg geborene Komponist in allen musikalischen Gattungen exemplarische Werke geschaffen: in der Orchestermusik (vier Sinfonien, Konzerte), der Kammermusik, der Klaviermusik, der Oratorien- und Chormusik (Ein deutsches Requiem) sowie dem sehr umfangreichen Liedschaffen.
Einzelne Kompositionen waren dabei schon zu Lebzeiten des Komponisten besonders erfolgreich. Vor allem die Ungarischen Tänze WoO 1 erfreuten sich großer Beliebtheit, wenngleich noch in den 1870er-Jahren mehrfach Streit über die Urheberschaft an den Melodien entstand. Zu den prominentesten Stücken gehört auch das Wiegenlied »Guten Abend, gut Nacht«, das in der populären Rezeption den Status eines echten Volksliedes erreicht hat. Zur Popularisierung des Komponisten im medialen Zeitalter hat auch die Verfilmung des Romans Lieben Sie Brahms? von Françoise Sagan beigetragen: Der dritte Satz der 3. Sinfonie op. 90 wurde zu einem Klassiker der Filmmusik.
Johannes Brahms wurde am 7. Mai 1833 in Hamburg geboren. Von großer Bedeutung für seine Entwicklung war die Begegnung mit dem Ehepaar Robert und Clara Schumann im Herbst 1853. In dem berühmten Essay Neue Bahnen feierte Schumann den gerade 20-Jährigen enthusiastisch, noch ehe der eine einzige Note veröffentlicht hatte: »Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener.« Schumann rühmte das »geniale Spiel« des jungen Pianisten, der »aus dem Klavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen« mache. »Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien« – so Schumann, der sodann prophezeite: »Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor.« Dieses begeisterte Urteil Schumanns hatte allerdings nicht nur positive Folgen. Der Artikel war zugleich eine belastende Hypothek: Zeitlebens wurde Brahms an diesen prophetischen Worten gemessen.
Ein deutsches Requiem markierte für Brahms dann den Durchbruch zum anerkannten Komponisten. Clara Schumann erinnerte sich bei der Bremer Uraufführung 1868 (noch ohne den fünften Satz) an den besagten Brahms-Artikel ihres Mannes: »Ich mußte immer, wie ich Johannes so da stehen sah mit dem Stab in der Hand, an meines teuren Roberts Prophezeiung denken ›laßt den nur mal erst den Zauberstab ergreifen, und mit Orchester und Chor wirken‹ – welche sich heute erfüllen sollte. 1869 reifte in Brahms der Entschluss, sich fest in Wien anzusiedeln. Ende Dezember 1871 bezog er in der Karlsgasse 4 jene Mietwohnung, die er bis zu seinem Tod beibehielt. Bezeichnenderweise hatte Brahms dort eine Büste von Beethoven stets »im Nacken«, wenn er am Flügel saß. Noch Anfang der 1870er-Jahre meinte der Komponist gegenüber dem befreundeten Dirigenten Hermann Levi, er werde »nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer einen Riesen [Beethoven] hinter sich marschieren hört.« Mit den Haydn-Variationen von 1873 erreichte Brahms indes die volle Souveränität über den Orchesterapparat – der Weg zur Sinfonie war nun frei. Die Erste wurde als dezidierte Finalsinfonie zu einer demonstrativen Auseinandersetzung mit Beethoven, wobei das berühmte Wort von »Beethovens Zehnter« (Hans von Bülow) den Sachverhalt nur partiell trifft: Dass das C-Dur-Thema des Schlusssatzes auffällig mit Beethovens Freudenthema der Neunten korrespondiert, hört – so Brahms – »jeder Esel«.
Ob Brahms der legitime Beethoven-Nachfolger sei, spielte eine Hauptrolle im großen Parteienstreit des 19. Jahrhunderts zwischen den Fortschrittlichen und Konservativen. Der Gegensatz zwischen Brahms und den fortschrittlichen »Neudeutschen«, gegen die Brahms schon 1860 ein Manifest mitunterzeichnet hatte, beruhte auf einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis der Musikgeschichte. Liszt und Wagner hatten die »Zukunftsmusik« auf ihre Fahnen geschrieben, sie wollten die Entwicklung der Musik mit der Sinfonischen Dichtung und dem Musikdrama unbedingt vorantreiben. Brahmsens Ziel hingegen war – so sein Lieblingsausdruck – eine »dauerhafte Musik«, die dem historischen Wandel durch ihre spezifische Qualität entzogen sei. Er favorisierte vor allem die Kammermusik, die sich introvertiert, aber zugleich systematisch auf die »Gesetze reiner Musik« allein konzentriert.
In den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens war Brahms eine führende Persönlichkeit der internationalen Musikszene, als Pianist, Dirigent und Komponist vielfach bewundert und verehrt. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften wurden ihm verliehen, was Brahms feinsinnig kommentierte: »Wenn mir eine hübsche Melodie einfällt, ist mir das lieber als ein Leopoldsorden.« Die Universität in Breslau verlieh ihm die Ehrendoktorwürde, und die Freie und Hansestadt Hamburg machte ihn zum Ehrenbürger – eine Auszeichnung, die zuletzt nur Bismarck und Moltke erhalten hatten. Schon 1881 notierte Clara Schumann in ihrem Tagebuch »eine große Genugthuung«, Brahms »so anerkannt zu sehen«; er feiere jetzt überall Triumphe, wie man sie kaum jemals bei einem Komponisten erlebt habe. Brahms starb am 3. April 1897 in Wien.
Schon bald nach seinem Tod entstand das Bedürfnis nach einer öffentlichen und die Zeiten überdauernden Ehrung des Komponisten. Die Male der Erinnerung nahmen allerdings sehr unterschiedliche Gestalt an: Da sind zunächst die eigentlichen Denkmäler, die Statuen und Büsten, die dem Komponisten errichtet wurden. Die künstlerisch bedeutendsten stehen in der thüringischen Residenzstadt Meiningen, in seiner Vaterstadt Hamburg und am Ort seines intensivsten Wirkens: in Wien. Doch auch die große, mehrbändige Brahms-Biografie von Max Kalbeck, der den ersten Band 1904 publizierte, war ein ebenso monumentales Denkmal wie die erste Brahms-Gesamtausgabe, die 1926/27 in 26 Bänden erschienen ist.
Diese Denkmäler sind freilich ins Wanken geraten: Das Denkmal von Max Klinger, das sich in der Hamburger Musikhalle befindet, zeigt einen hochaufragenden Brahms, von Musen und Genien umringt, einen Menschen, der – wenngleich aus Carrara-Marmor – ins Überirdische hinauszuwachsen scheint. Unabhängig von dem ästhetischen Rang dieser eindrucksvollen Arbeit: Kaum mehr sehen wir heute den Komponisten mit den Augen Klingers. Die Brahms-Büste des Prager Bildhauers Milan Knobloch, die im Jahr 2000 in die Walhalla bei Regensburg einzog, zeigt in bewusster Abgrenzung pointiert einen jungen Brahms ohne Bart.
Auch das Brahms-Bild, das Max Kalbeck auf Hunderten von Seiten in seiner apologetischen Brahms-Biografie entworfen hat, ist von der Forschung längst in vielerlei Hinsicht korrigiert und ergänzt worden. Und: In Kiel entsteht unter dem Schirm der Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften eine neue Brahms-Gesamtausgabe, die auf einer weitaus umfangreicheren Quellengrundlage und auf neuen Methoden der Editionspraxis basiert. Nicht zuletzt durch etliche Neuerwerbungen des Brahms-Instituts konnte die Quellenbasis für diese Ausgabe erweitert werden.
[Wolfgang Sandberger]