Pressespiegel

Dithmarscher Landeszeitung | Donnerstag, 19.09.2024

Brahms-Preis 2024 geht an Kent Nagano.

[von Andreas Guballa]

In diesem Jahr geht der Brahms-Preis an den Dirigenten Kent Nagano. Die Laudatio am 29. September in der St.-Bartholomäus-Kirche hält Professor Doktor Wolfgang Sandberger. Im Gespräch mit Andreas Guballa verriet er, warum Nagano genau der richtige Preisträger ist.

Kent Nagano ist ein sehr tiefsinniger Musiker und ein fabelhafter Brahms-Interpret. Ich schätze seine Ernsthaftigkeit, mit der er sich Johannes Brahms nähert, und seine Neugier. Er ist jemand, der Brahms richtig zu interpretieren versteht – mit Verstand, aber auch mit Herz. Als Würdigung seiner zehnjährigen Ära in Hamburg, wo er Brahms bereits im allerersten Konzert 2015 als Generalmusikdirektor dirigiert hat, ist auch der Zeitpunkt perfekt gewählt. In dieser Hamburger Zeit hat ihn Johannes Brahms wie ein roter Faden begleitet, und er hat ganz neue Perspektiven auf das Werk des norddeutschen Komponisten eröffnet.

Worauf spielen Sie genau an?
Wir haben im August vor zwei Jahren gemeinsam ein großartiges Projekt in der Hamburger Elbphilharmonie realisieren können. Zusammen mit über 400 Sängerinnen und Sängern verschiedener Hamburger Chöre hat Kent Nagano Brahms' „Deutsches Requiem“ in der Fassung präsentiert, die 1868 bei der Uraufführung in Bremen erklang – und zwar noch ohne den berührenden fünften Satz („Ihr habt nun Traurigkeit“). Dafür gab es mittendrin und am Ende des Werkes musikalische Einlagen und Ergänzungen: Werke und Solo-Partien von Bach, Händel, Tartini und Schumann. Ich fand es faszinierend, wie sich Kent Nagano damals in die Entstehungsgeschichte eingearbeitet hat und immer mehr Details wissen wollte: Wurde das jetzt mit Orgel oder Streichern begleitet? Warum hat er welche Werke anderer Komponisten dazu genommen? Auch kulturpolitisch war es eine ganz wichtige Sache, so viele Hamburger Chöre in der Elbphilharmonie zusammenzubringen. Für mich war die Aufführung eines der größten Musikereignisse der letzten Jahre, die ich im Norden erlebt habe.

Was fasziniert Sie als Leiter des Brahms-Instituts an Johannes Brahms?
Ich bewundere an Brahms die Kunstfertigkeit der Kompositionen, das Artifizielle, das Gearbeitete. Er konnte eine große Passacaglia im Finale der „Vierten Sinfonie“ schreiben oder eine Sonatenfuge in der „e-Moll-Cello-Sonate“. Auf der anderen Seite haben seine Kompositionen auch immer etwas unglaublich Tiefsinniges und Emotionales. Zugleich ist Brahms jemand, der sich nicht sofort erschließt. Er hat auch etwas Hintersinniges und Melancholisches.

Also typisch norddeutsch?
Obwohl Brahms ein kosmopolitischer Komponist war, der viele Einflüsse in seiner Musik vereinte, bleibt seine norddeutsche Herkunft und Prägung ein unverkennbarer Bestandteil seines Schaffens. Seine Musik wird ja oft als ernsthaft und melancholisch beschrieben – ein Charakterzug, der auch mit dem norddeutschen Wesen in Verbindung gebracht wird. Allerdings wurde das vermeintlich Norddeutsche auch negativ gegen ihn gewendet. Menschen wie Hugo Wolf, die Brahms nicht mochten, meinten, man könne sich einen Schnupfen holen bei dieser kühl-nebligen Musik. Das wäre alles so unterkühlt norddeutsch. Das finde ich gar nicht. Für mich ist es eine sehr glutvolle Musik. Die norddeutschen Wurzeln hört man vielleicht am ehesten noch in seinen Liedern, bei den Vertonungen der Texte etwa von Klaus Groth. Aber Brahms ist heute eigentlich ein internationaler Komponist. Seine Sinfonien, aber auch die Kammermusik, gehören zu den international renommierten Werken, die heute weltweit gespielt werden.

Wie wichtig sind denn seine Werke für den Konzertbetrieb?
Bis auf die Oper hat er in allen Musikgattungen mustergültige Werke vorgelegt. Im Konzertbetrieb werden heute vor allem die vier großen Sinfonien, aber auch die Klavierkonzerte, das Violinkonzert D-Dur und das Doppelkonzert in a-Moll aufgeführt. Seine Kammermusik wird immer gespielt – für mich auch die Spitze der Kammermusikkunst in allen Gattungen. Etwas zu kurz kommen aus meiner Sicht die großartigen chorsinfonischen Werke. Außer dem „Deutschen Requiem“ gibt es ja zum Beispiel noch „Nänie“, „Schicksalslied“ und „Rinaldo“ – Werke, die im 19. Jahrhundert auf den großen Sängerfesten aufgeführt wurden. Die könnten gern noch ein bisschen stärker in den Fokus rücken. Auch seine Lieder haben es heute zunehmend schwerer. Das ist schade, denn es gibt über 200 Liedvertonungen – eine Perle schöner als die andere. Im Brahms-Institut arbeiten wir gerade an einem digitalen Brahms-Portal, über das wir weltweit unsere einzigartigen Quellen zur Verfügung stellen. Über diesen Internetauftritt ist Kent Nagano letztlich auch seinerzeit auf das Brahms-Institut gekommen, um für die Bremer Fassung des „Deutschen Requiems“ zu recherchieren.

Was sind Ihre Aufgaben als Leiter des Brahms-Instituts?
Das Brahms-Institut wurde 1991 mit dem Erwerb der weltweit größten privaten Brahms-Sammlung von Kurt Hofmann gegründet, der leider vor Kurzem im Alter von 92 Jahren gestorben ist. Er besaß eine großartige Sammlung von Briefen, Autografen, wunderbaren Fotografien, Programmzetteln und vielem mehr. Eine kostbare Sammlung und Herzstück unserer Arbeit. Wir haben mithilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Briefwechselverzeichnis erstellt, in dem alle Briefe von und an Johannes Brahms zusammengetragen sind. Unsere Aufgabe ist es, die Sammlung zu pflegen, zu mehren und in Ausstellungen zu zeigen. Daneben kuratiere ich das Brahms-Festival an der Musikhochschule in Lübeck, wo wir versuchen, Brahms-Schwerpunkte zu setzen. Insofern ist es eine großartige Aufgabe, dieses Institut zu führen. Es wird jedenfalls nie langweilig, sondern es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Sich mit Johannes Brahms und seiner Musik beschäftigen zu dürfen, ist ein ganz großes Privileg.


Zur Person:
Dr. Wolfgang Sandberger ist Professor für Musikwissenschaft und Leiter des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck. Sandberger hat zahlreiche Publikationen zu Brahms und zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts verfasst. Er ist Mitglied der Academia Europea und ab 2025 Vorsitzender der Possehl-Stiftung Lübeck. Neben seiner Tätigkeit am Brahms-Institut ist er auch als Hochschullehrer tätig und engagiert sich intensiv in der Musikvermittlung und Kulturarbeit. Daneben arbeitet der 63-Jährige auch als Autor und Moderator für verschiedene Rundfunkanstalten.

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