Theodor Fürchtegott Kirchner (1823–1903)
Theodor Kirchner war eine vielseitig begabte Musikerpersönlichkeit. Er wirkte als Komponist, Pianist, Dirigent und Organist. In der Musikwelt war er vielfach vernetzt. Er konzertierte mit Clara Schumann, Julius Stockhausen und anderen renommierten Interpreten des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt seines kompositorischen Werks steht die Klaviermusik, die etwa eintausend Einzeltitel umfasst. Johannes Brahms galten etliche dieser Miniaturen als das »Zarteste vom Zarten«.
Über seinen letzten Schüler, Conrad Hanns, gelangte ein bedeutender Teilnachlass von Kirchner in die Sammlung Hofmann und damit 1991 an das Brahms-Institut. Die umfangreichen Materialien zu Leben und Werk werden hier in Digitalisaten zur Verfügung gestellt. Dazu zählen 36 Musikautografe, mehrere hundert Blatt Skizzen und Entwürfe und die umfangreiche Sammlung der häufig mit handschriftlichen Eintragungen versehenen Erst- und Frühdrucke seiner Werke, sowie zahlreiche Schriftstücke und Lebensdokumente.
Für den musikalischen Weg von Theodor Kirchner waren die Begegnung und Freundschaft mit Robert Schumann bestimmend. 1843 besprach Schumann Kirchners Opus 1 wohlwollend und zählte ihn 1853 in seinem berühmten Brahms-Essay »Neue Bahnen« zu den »hochaufstrebenden Künstlern der jüngsten Zeit«. Bereits der 15-Jährige wurde Schumann und Mendelssohn vorgestellt, die vom Talent des jungen Musikers überaus positiv beeindruckt waren. Mendelssohn empfahl Kirchner, in Leipzig Klavier, Musiktheorie und Orgel zu studieren. 1843 trat der 20-Jährige als erster Schüler mit der Matrikelnummer 1 in das neugegründete Leipziger Konservatorium ein. Ein später Nachklang darauf sind Kirchners »Erinnerungen an das Konservatorium«.
Neben einigen Liedern, einem ambitionierten Streichquartett und kleineren Kammermusikwerken schrieb Kirchner für ‚sein‘ Instrument über 1.000 Einzelstücke, von denen einige Brahms als das "Zarteste vom Zarten" galten. Sie bilden ein Kaleidoskop musikalisch singulärer Inspiration und kompositorischer Vielfalt, oft gewonnen aus kürzesten motivischen Eingebungen. Die Auseinandersetzung mit Schumanns Tonsprache spiegelt sich in Werktiteln wie »Neue Davidsbündlertänze« op. 17, »Neue Kinderscenen« op. 55 oder »Florestan und Eusebius« op. 53. Dennoch behielt Kirchner einen unverkennbar eigenen Tonfall bei. Zwischenzeitlich verband ihn eine sehr enge Freundschaft mit Clara Schumann – ein Umstand, über den auch ein goldener Füllfederhalter von Robert Schumann in Kirchners Nachlass gelangte.
In seinen späteren Lebensjahren verlagerte der verarmte und kranke Komponist seinen Lebensmittelpunkt nach Hamburg, wo Mathilde Schlüter, die Witwe eines Baufirmeninhabers, seine Schülerin wurde und sich um ihn kümmerte. Dass Kirchner bald nach seinem Tod – er wurde 1903 auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg in Nachbarschaft von Hans von Bülow und Julius Spengel beigesetzt – in Vergessenheit geriet, hängt mit der Kürze seiner Kompositionen zusammen, die fast durchweg dem Genre des romantischen Charakterstücks verpflichtet sind.
Erschlossen wurde der Kirchner-Nachlass in einem Projekt des Brahms-Instituts von Dr. Fabian Bergener, der dabei auf wichtige Vorarbeiten von Dr. Harry Joelson-Strohbach (Winterthur) zurückgreifen konnte. Gefördert wurde das Digitalisierungsprojekt durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein. Staatssekretär Rolf Fischer schaltete diesen Meilenstein des digitalen Archivs des Brahms-Instituts Ende Januar 2016 frei.
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Der Nachlass
Der digitalisierte Nachlass Theodor Kirchners umfasst 9.000 Einzelseiten. Das umfangreichste Segment bilden die Erst- und Frühdrucke. Hier sind 24 Sammelbände mit den persönlichen Handexemplaren des Komponisten enthalten, die mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen und Eintragungen versehen sind. Mit annähernd 100 Heften bilden die Einzelausgaben der Werke Kirchners einen weiteren wichtigen Anteil. Weltweit stehen seitdem nahezu sämtliche Werke Kirchners in Erst- und Frühdrucken digital zur Verfügung.
Weiterhin umfasst der Nachlass 36 Autographe – u. a. von Klavierwerken und Liedern – und mehrere hundert Blatt an Skizzen, Konzepten und musikalischen Entwürfen, die einen faszinierenden Einblick in die Kompositionswerkstatt Kirchners bieten.
Vergleichsweise klein fällt der Anteil an Lebensdokumenten aus, in dem lediglich knapp ein Dutzend Briefe von und an Kirchner enthalten sind. Neben einigen Schrift- und Erinnerungsstücken, wie beispielsweise Adress- und Notizbüchlein, finden sich hier auch einige Konzertprogramme, ein Zigarrenetui, ein Briefsiegel und ein Füllfederhalter aus dem Besitz Robert Schumanns.
Nicht digitalisiert wurden die umfangreiche Notenbibliothek mit Ausgaben der Werke von Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven sowie die Büchersammlung von Theodor Kirchner, da sie in diesem Zusammenhang Sekundärquellen darstellen. Eine Ausnahme bilden die im Nachlass enthaltenen Erstdrucke der Werke von Johannes Brahms und Robert Schumann, die bereits im digitalen Archiv des Brahms-Instituts vorliegen.
Die Digitalisierung des Kirchner-Nachlasses führt nicht nur die Bandbreite der Sammlung des Brahms-Instituts vor Augen, die weit in den Freundes- und Bekanntenkreis des Namensgebers hineinreicht. Sie ist auch ein wesentlicher Schritt für die Bestandserhaltung der kostbaren Originale, die so langfristig geschont werden.
Für die Forschung eröffnet dieser Komponistennachlass vielfältige Perspektiven. Viele der enthaltenen Ausgaben sind mit handschriftlichen Eintragungen des Komponisten versehen, enthalten Korrekturen, Fingersätze, Besitzvermerke oder Widmungen. Die enthaltenen Materialien bieten u. a. Einblicke in Publikationsprozesse und die Interpretationsgeschichte sowie die Möglichkeit, Fragestellungen zu Widmungskonventionen nachzugehen, da sowohl gedruckte als auch handschriftliche Widmungen vertreten sind. Anhand der autografen Manuskripte und vor allem des Skizzenmaterials (Ideensammlungen, Konzepte) lassen sich zudem Entstehungsprozesse nachvollziehen und kontextualisieren.
Die bibliothekarische Erschließung des Nachlasses stützt sich wesentlich auf die Arbeiten von Harry Joelson-Strohbach an einem Werkverzeichnis für Theodor Kirchner, die dankenswerterweise vom Autor zur Verfügung gestellt wurden. Ermittelte Angaben zu Publikationsdaten und Auflagen sind aus dieser Arbeit entnommen.
Im Schweizerischen Amadeus-Verlag in Winterthur erscheint seit den 1990er Jahren eine umfangreiche Werkausgabe mit ausgewählten Kompositionen Theodor Kirchners.